»Eine Gesellschaft ist danach zu beurteilen, welche Möglichkeiten sie dem letzten ihrer Bürger gibt.«
Eine ältere Version des Buches beinhaltet nur die ersten drei der vier autofiktionalen Geschichten: »Der Schlamm«, »Der Hörsaal« und »Die Bühne«. Während der Text »Die Tribüne« als viertes Kapitel erst in späteren Ausgaben mitveröffentlicht wurde. Die Texte sind jeweils in etwa fünfjährigen Abständen zwischen 1959 und 1974 geschrieben worden. Das erste Kapitel »Der Schlamm« schrieb Braun also im Alter von 20 Jahren und wie es sich scheinbar gehört für einen männlichen Schriftsteller diesen Alters, enthält dieses Kapitel noch viele Selbstinszenierungen des Schriftstellers als leidender Mann, der sich nicht auf eine Frau festlegen will und entweder traurig ist, weil er nicht bei den Mädchen landet, und wenn doch, dann trauert er seiner Ex-Freundin hinther. Diese Liebesgeschichteneinsprengsel sind der schwächere und uninteressante Teil der ersten Hälfte des Werkes - literarisch sehr schwach und für mich die Frage aufwerfend, worum es Braun bei diesen Schilderungen geht, was das Interesse für die Leserinnenschaft hieran sein soll. Brauns Schreiben ist in diesen jungen Jahren noch sehr dürftig, wenn es um das Thema Beziehungen geht.
So lesen sich die vier Kapitel aber auch in gewisser Hinsicht als Bildungsroman. Während im ersten Kapitel noch die Selbstbemitleidung überwiegt, sind die Betrachtungen über die Organisation der Liebe und der Paarbeziehung in späteren Kapitel spannender, etwa in Kasts Selbstreflexionen hinsichtlich des polyamorösen Beziehungsgeflechts seiner Freundin oder in marxistischen Betrachtungen zur Liebe:
Nachts dachte ich: und wenn kein großer Unterschied ist zwischen der Liebe zueinander und der Liebe zu einer Tätigkeit? Auch die Liebe ist eine Produktion.
Kast zeigt in den späteren Kapiteln weniger Bindungsängt und erkennt Liebe auch als Selbstentfaltung, was seine allzu adoleszenten Auslassungen in den ersten beiden Kapiteln entschuldigt.
»[W]as wir wollen ist gut, und was wir nicht wollen, ist nicht schlecht; und wir müssen es immer neu entscheiden.«
Brauns großes Thema in diesem Buch sind die Widersprüche im sozialistischen Leben und die Grenzen der persönlichen Entfaltung der Individuen in der DDR-Gesellschaft, welche Braun natürlich als widersprüchlich zeichnet. Die vier Kapitel spielen dieses Thema in jeweils anderen gesellschaftlichen Institutionen durch: in der Arbeit in der Brigade, in der Universität, im Theater und im vierten Teil noch einmal in der Lohnarbeit, diesmal aber mit dem autobiographisch angelegtem Kast als Brigadeleiter, statt als Industriearbeiter wie im ersten Teil. Dort beschreibt Braun noch die Bedeutungslosigkeit, in der die Industriearbeit manchmal erscheint. Die kleinen Errungschaften und Arbeitsergebnisse und Planerfüllungen, die die Bausteine im Aufbau des Sozialismus sein sollen, sich aber ob ihrer Ineffizienz oder ihres langsamen Vorkommens zur Entfremdung der Arbeiter, auch Kasts, führt. Braun/Kast hilft sich dabei mit einem emphatischen, inneren Bekräftigung der Losungen des Sozialismus, welche manchmal etwas zu lehrbuchmäßig oder pathetisch-unnatürlich klingen mögen, jedoch einen Blick geben auf die Hoffnungen, die ein junger Arbeiter - nicht zu unrecht wohl - in diese Gesellschaftsorm legt:
[W]ir würden diese Arbeit machen, die es gab, […] wenn wir nichts weiter wollten. Ich wußte, das war eine unvollkommene Lösung, wie das LAnd unvollkommen war, aber es war so wie wir es machten; es bewegte sich, aber nicht geheimnisvoll, nicht unabhängig von uns, nicht gegen uns, sondern als unsre Arbeit, als unser Leben.
Ja, die Gesellschaft bildet uns aus, aber wir können nicht mehr so stur und ausgerichtet herleben und uns zu etwas machen und sonst nichts. Das ist nicht natürlich sondern ein blöder Zwang - auf den wir bequemen Apparate allerdings schnell geeicht sind. Nur durch unsere ganze Person wird die Gesellschaft natürlich: zu unserer Natur.
Kast erheischt dann später einen Blick darauf, wie dieses Idealbild in seiner realisierten Form aussehen kann. Das »Bühnen«-Kapitel nämlich beschreibt die Proben zu einem Theaterstück (vermutlich Brauns »Hinze und Kunze«), in denen KAst als Regisseur auffällt:
So kann Arbeit sein… Es wird probiert, es wird nicht ein Jahr geschaufelt oder zehn Jahre sondern einen Moment […]. Arbeit die nur Anregung ist, und doch Summer aller Arbeit. […] Die jeden immer ganz fordert, ihm also in jedem Augenblick erlaubt zu wachsen, sich auszubilden!
Gleichzeitig erzählt das Kapitel die bekannte Geschichte der Kompromisse, die man als nach Fortschritt und Veränderung strebender Bürger der DDR zwangsläufig machen muss: Kast kann das Stück nicht in seiner gewünschten Form aufführen, da die Intendenz ob das grade stattfindenden Prager Frühlings ideologische Bedenken hat und Streichungen einfordert. Diese Zwangslage bezeichnet die Widerstände dabei, den Fortschritt auf eigene Weise durchzusetzen und die Müßigkeit der Aushandlungsprozesse in einem bürokratischem Sozialismus.
Im vierten Kapitel dann sieht sich Kast selbst in der Rolle der Intendanz, die nur Kompromisse, keine realisierten Utopien anbieten kann. Kast will die Arbeit im Betrieb so organisieren, dass sie den Arbeiter:innen nicht als Lohnabhängigkeit erscheint, sieht sich als Brigadeleiter aber notwendig dennoch in der Position des Herrschenden über die Lohnabhängigen:
Statt um die Leute müsse ich mich um die Dinge kümmern; statt des Vielen, das sie wollen, interessiere mich nur das Eine: die Scheißproduktion. Die […] Strukturen müßten so verändert werden, daß wir […] wirklich gefordert würden und gebraucht für ein Leben aus mehr als blinder Mühe!
Eine Auflösung dieser Zwangslage bietet Braun nicht und den Abschluss des vierten Kapitels stellen entsprechen auch nur einige Fragmente, sodass die Arbeit am befreiten Individuum auch literarisch unvollständig bleibt.